Samstag, 30. Januar 2016

Zug um Zug

Ein Ritter in leichter Rüstung kniet auf allen Vieren und schaut erschöpft zu Boden. Obwohl keine Wunden zu sehen sind, ist er verdreckt und es ist klar, dass er gerade vernichtend geschlagen wurde. Die Außenwelt ist völlig ausgeblendet, es geht nur um ihn. Seine Niederlage ist der einzige relevante Inhalt des Bildes, das ihr euch gerade vorstellt.

Auch ich hatte dieses Bild vor Augen, als ich im Juni 2015 eine dazu passende Geschichte für die zweite Runde im Sommerturnier der Schreibwerkstatt schrieb. 

Zug um Zug

Du hast von der Welt des Ritters gehört, ich bin mir sicher. Hast Bilder gesehen, dir damals in der Schule Gedanken gemacht, als du noch nicht so sehr mit deinem eigenen Leben beschäftigt warst. Vielleicht bist du seiner Welt auch nahe gekommen, hast dir überlegt, wie du in ihr bestehen würdest. Es besteht gar die Möglichkeit, dass du dich durch jahrelange Studien besser in ihr auskennst, als alle deine Freunde, alle Politiker, alle Großväter. Doch wer du auch sein magst: Du weißt ganz sicher nicht, wie grausam seine Welt ist.

Ritter: »Gestern wurde ich Zeuge, wie die Saatkrähen einander zerhackten. Diese imposanten Geschöpfe sind mir aus meiner Kindheit wohlbekannt. Ich bin durch ihr Krächzen aufgewacht, zu diesem Krächzen eingeschlafen und in dem Bereich dazwischen, der sich Tag nannte, unter ihrem Krächzen herangewachsen. Damals, in einer Zeit, in der noch Ordnung herrschte, stand direkt neben unserer Behausung 
 einer wehrhaften, kleinen Anlage  ein hoher Turm, auf dessen Zinnen sie saßen und warteten. Sie beobachteten aus schwarzen, wissenden Augen das Treiben der Menschen, und wenn sie Hunger hatten, flogen sie nicht auf die Felder, sondern ernährten sich vom Glück und Leid der Welt. Ich fand es nicht verwunderlich, sie nie ausfliegen zu sehen, und auch nicht, dass sie, anders als Amseln, übermenschlich groß waren. Wir Kinder kannten es nicht anders. Später, als ich das Land durchstreifte, erfuhr ich von einem tattrigen Bauern, dessen Bart schon fast den Erdboden berührte, von der Düsternis, die diese Vögel umgab. Erst, wenn die Welt in Trümmern liege und der König sie brauche, so sagte er, würden sie sich erheben und alles zerfleischen, was ihren Weg kreuzte. Ich hatte ihm, jung wie ich war, kein Wort geglaubt und ihn gewarnt, unseren König nicht mit schwarzer Magie in Verbindung zu bringen. Als er Jahre darauf einer der ersten war, die in den heimtückischen Schlachten fielen, sah ich mein Vorurteil bestätigt. Nur die uneingeschränkte Treue zum König war der rechte Weg, und dieser verhalf mir zu Pferd und Streitkolben. Selbst, als die Saatkrähen flogen, zögerte ich nicht, den Befehlen zu folgen. Besser ein König der Magie, als von einem übermächtigen Feind zerrieben zu werden.«

Du magst ihm einen schwachen Willen attestieren, sich so leicht den Oberen zu fügen, doch hüte dich, über Menschen zu richten, in deren Haut du nicht steckst, nicht stecken wirst, nicht einmal stecken kannst.

Was hat es wohl mit dieser Welt auf sich? Der Hinweise wird es genügend geben.

Ritter: »Der Befehl für unsere Streifzüge bekamen wir nicht vom König, auch nicht von einem der beiden Bischöfe. Sie kamen von weiter oben. Eine tiefe, unbeugsame Stimme spricht in uns, weist uns den Weg …«

… und der Gedanke an Widerspruch, der sich in seinem Kopf schon geformt hatte, war so abwegig, dass der Ritter ihn nicht aussprechen konnte.

Ritter: »Dieses System ist absolut in seiner Kontrolle, sie alle, selbst der König, sind nur Figuren in einem Spiel. Dies wurde mir bewusst, als die Saatkrähen einander zerhackten. Gestern 
 ich verweilte in einem Unterstand, unfähig, weiterzuziehen   lenkte das vertraute Krächzen meinen Blick auf die Grenze zwischen zwei der quadratisch angelegten Felder. Dort schritt eine Saatkrähe, angetrieben von schwarzer Magie, auf und ab und spie Galle zu einem dieser fremden Bauern, der seinerseits drohend die Forke erhob. Die reine Mordlust, die in beider Augen funkelte und einem Wesen galt, welches das eigene Leben noch nie tangiert hatte, mochte mir einleuchten, doch der Umstand, dass diese alles beherrschende Destruktion nicht nach Herzenslust ausgelebt wurde, dass beide nur drohten, doch, obgleich sie keinerlei Angst zu verspüren schienen, nicht zur Tat schritten, warf Fragen auf. Ich, der als Ritter erzogen worden war, hatte dieses Vorgehen unter dem Begriff der Ehre verinnerlicht  doch ein stumpfsinniger Körnerfresser und ein, wenn auch edler, Vogel? Stundenlang eiferten sie um die größte Bedrohung, ohne einander näher zu kommen, dann wurde dieses Schauspiel abrupt von einer Krähe des weißen Königs beendet, die aus dem Himmel schoss und ihre Krallen in das Fleisch der unsrigen schlug. Überrascht von dieser jähen Wendung suchte ich zwischen den Wolken nach weiteren Kämpfern und erblickte eine Saatkrähe, die in kantigen Bahnen über der Szenerie kreiste und laut vor Kummer schrie. Sooft sie auch versuchte, ihrem Kameraden zu Hilfe zu eilen: stets wurde sie von einem schwach schimmernden Kraftfeld daran gehindert. Erst, als die unsere Krähe nur noch blubberndes Gedärm war, gelangte sie herab und zerfleischte ihrerseits den vom Kampf geschwächten Gegner. Damit nicht genug: Weitere Krähen flogen aus allen Himmelsrichtungen herbei, stießen sauber geordnet eine nach der anderen herab und rissen ihren Rivalen in Stücke. Was war der Plan in diesem Spiel? Ein Ausgleich der Kräfte, ganz gleich, wie viele Leben in der dreckigen Erde versickerten? Voll Abscheu griff ich meinen Kolben, sprang auf mein Pferd und preschte mit lautem Husarenschrei hinan. Der Respekt, den ich vor diesen Tieren gehegt hatte, war dem Ekel vor ihrem gedankenlosen Opfer gewichen. Die letzte von ihnen glotzte nur stumm, als ich ihr den blutverschmierten Schnabel in den Schädel schmetterte. Auch den Bauern, der dem Schlachten tatenlos zugesehen hatte, hätte ich gerne vernichtet, doch besann ich mich plötzlich. Ich musste ihn nicht töten. Ein Frieden wäre möglich, wenn wir nur … Noch ehe ich meine Hand zum friedlichen Gruß erheben konnte, schoss ein Bischof wie ein Blitz herbei und stopfte den Bauern mit brachialem Schlag in den Boden.«

Bischof: »Vergiss nicht, wo dein Platz ist, Ritter!«

Ritter: »›Welcher Platz?‹, fragte ich mich selbst. Solche gab es nur in festen Gefügen, auf Tribünen und beim Tanze. Sollte das Leben nicht mehr sein? ›Ich hatte es unter Kontrolle!‹, schrie ich und fügte schnell ›Euer Gnaden‹ hinzu. ›Ich ließ ihn leben, so wie Ihr mich am Leben lasst. Schwarz oder Weiß, es zählt nicht.‹ Ich fürchtete, für dieses offene Wort bestraft zu werden, doch er zog nur ein Buch hervor, das in ein regelmäßiges Muster aus schwarzen und weißen Quadraten gebunden war: die Sesch. Er blätterte zu einer oft gelesenen Stelle und sprach zu mir in sakralem Ton.«

Bischof: »Die Wege dieser Welt sind bestimmt vom Anfang bis zum Ende, von der Ordnung bis hin zur Niederlage der Krone. Was es wird, ist nicht gewiss, doch gewiss ist, dass es wird.«

Ritter: » ›Ich kenne diese Sprüche‹, ließ ich ihn wissen, ›vom Gleichnis der Rochade bis zu den Feldzügen des Gambit. Sie mögen dem Weisen viel sagen, doch sind sie nicht das Leben. Gebraucht Euren eigenen Kopf!«

Bischof: »Kein Kopf dem Töricht! Der freie Wille, er ist eine Illusion! Vom Tausch der Krähen steht geschrieben, vom Rittersprung, und auch, dass du nicht schlagen wirst den dir nächsten. So füge dich doch dieser Welt! Vergöttere die Damen, verfalle dieser weißen Hexe! Komm ihr nahe, denke, sie verführen zu können, singe deine Lieder und stirb, sobald sie dich berührt!«

Ritter: »Mein Leben sollte ich geben für dieses garstige Weib, das als Fräulein zu sehen ich gelehrt wurde? Ein Schicksal nur war mir bestimmt, ohne Wahl? Die Last dieser Vorhersage warf mich in die Knie. Die trockene Erde war meinem Gesicht näher als je in einem Kampf, ich sah Tränen die Krummen nässen und trotz aller Anstrengung waren meine Arme nicht in der Lage, mich wieder auf die Beine zu drücken.«

Bischof: »Das ist deine Lösung? So höre denn: Es gibt zwei Möglichkeiten, aus dem Leben zu treten: Mit stolz erhobenem Haupt oder als dreckiger, auf dem Boden kriechender Hund.«

Ritter: »›Ist es denn nicht schon entschieden?‹«

Bischof: »Wie wahr, also steh auf!«

Ritter: »›Ich bleibe hier, dem Boden nah, es erscheint mir richtig. Wer nicht geht, der geht nicht falsch.‹ Möge die äußere Macht eingreifen, wenn es ihr beliebt.«

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