Samstag, 23. Januar 2016

Die Entwicklung der Arten

Wie wird sich das Verhältnis von Religion und Wissenschaft in der Zukunft entwickeln? Man kann es nicht genau sagen, aber man kann Vermutungen anstellen. Hier seht ihr meine aus dem Mai 2015, damals entstanden als Geschichte im Sommerturnier der Schreibwerkstatt. 

Die Entwicklung der Arten

Verwegen wehte sein Vollbart im Wind. Als wäre er der Zeit entsprungen, um endlich zu triumphieren, stand Charles Derwing, ein in Würde ergrauter Biologe, auf einer Erhebung und reckte ein dünnes Heft gen Himmel. Mehrere Drohnen umkreisten ihn, richteten ihre roten Kameralinsen auf die Szenerie und schickten Nah- und Fernaufnahmen hinaus in alle Kolonien. Dort saßen Junge wie Alte, die mit den anwesenden Würdenträgern in leiser Verachtung verbunden waren: Dieser Mann wollte lehren, doch der aschfahle Umschlag in seiner Hand strahlte keinerlei Magie aus. Die großen Bücher der Geschichte mit ihren dicken, ledernen, goldbesetzten Einbänden und Hunderten Seiten konnten wohl Wahrheit verbreiten, aber dieser Wisch? Ein Murmeln ging durch die Menge, sammelte sich zu einer Faust und prallte an der geschwellten Brust des Wissenschaftlers ab. Er war vorbereitet und dieser Wisch, wie sie meinten, das knappe Dutzend vergilbter Seiten, einst mit blauer Tinte beschrieben, heute kaum noch lesbar, war seine stärkste Waffe.


»Die Biologie!«, rief er laut und gab damit den Beginn seiner Rede bekannt. »Die Biologie hat sich der Klassifikation der Lebewesen dieser Welt  weit über neunzig Prozent davon längst ausgestorben  verdient gemacht. Doch in diesem Heft stehen keine Daten über Eisbären oder Kröten, über Eichen oder Wiesenblumen; dieses Heft wurde nicht geschaffen, um sich die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen; es enthält keine einzige gesicherte Erkenntnis.«

Er verstummte, wie auch der Pulk ihm gegenüber verstummte. Sollte das sein Zug in diesem ewigwährenden Kampf sein? Die Bekanntgabe des Unwissens, die völlige Kapitulation?

Sollte es wirklich so sein?

Nein: »Dieses Heft«, er ballte eine kräftige Faust, die Knicke im Dienste der großen Geste hinnehmend, »enthält, was die Wissenschaft von allen anderen kulturellen Errungenschaften und Fehlleistungen der Menschen und unserer Freunde von außerhalb abhebt: es enthält fundierte Voraussagen.«

Charles erhob seine Stimme noch weiter; nicht, um eine etwaige Unsicherheit zu übertönen, sondern um sich in den Köpfen, vor allem denen der Jugend, festzusetzen. Eine solche Gelegenheit würde es nie wieder geben, die Genehmigung des Obersten Rates war ein Wunder an sich.

»Mehrere Autoren, namhafte wie unbekannte, haben zu Beginn des dritten Äons, kurz vor dem Großen Wandel, ihre vermutete Entwicklung der Arten notiert. Anders als etwa der einsteinschen Theorie, deren Effekte nunmehr jedem direkt erfahrbar sind, der gar der menschliche Glanz genommen wurde, indem man sie zu einem göttlichen Willen degradierte, anders als vielen Gedankenmodellen gleichen Ranges, mangelt es der Evolutionstheorie an zügig überprüfbaren Behauptungen. Alle Ausgrabungen in den Winkeln der Welt, alle Untersuchungen damaliger tropischer Arten, die aufzeigten, wie kleine, zufällige Veränderungen im Laufe der Zeit zur Anpassung an neue Umstände führten, ja selbst die Aufzeichnungen unserer Freunde wurden in Zweifel gezogen. In Zweifel gezogen von jenen Priestern, auf deren Boden ich heute stehe.« Er öffnete seine Haltung und lächelte breit in die Kamera, deren Objektiv sich zurückzog und in die Totale wechselte, um ihn als größenwahnsinnigen, vermeintlichen Messias erscheinen zu lassen. »Ich stehe hier im Heiligen Garten, inmitten eines Ökosystems, das nahezu eine Million Quadratkilometer umfasst und seit Jahrtausenden vor den, so sagen sie, verderblichen Einflüssen der Moderne geschützt wurde. Jeder Beleg der Evolution, der hier aufgedeckt wird, kann nichts anderes sein als Gottes Wille und wenn nicht, sei es ihm selbstredend freigestellt, Einspruch zu erheben.«

Mit diesen Worten endete seine Rede und zugleich seine Welt. Er ließ das Heft fallen, ohne ein einziges Wort zitiert zu haben, und griff sich krampfend an den Kopf. Weißgrauer Schaum strömte zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor, seine Augen verdrehten sich im Wahn, sein Körper ging in die Knie und er verlor die bewusste Kontrolle über seine Handlungen.

Diese Schlacht war verloren, doch der Anlass für weitere könnte besser nicht sein. Dabei war es ohne Belang, wer die Hauptschuld trug: Charles Derwing, der seine Zunft verraten und ein Büchlein vorgelegt hatte, das schon wegen der verwendeten Linear-Schrift auf ein deutlich jüngeres Datum geschätzt würde, oder der eingeschworene Kreis ewig Gestriger, der zum Schutze gegen die Wissenschaft dieselbe auf einen seiner ärgsten Kritiker losgelassen hatte. Die Kontrahenten waren Opfer eines Systems, das sich letztlich selbst richtete.

Nichtsdestotrotz und ungeachtet all der methodischen Mängel bleibt festzuhalten: Die Käfer der Gattung Xyleborus mit dem goldigen Artzusatz „aurata“, die Charles der Öffentlichkeit präsentieren wollte, verkörperten die Idee der Evolution wahrlich ausgezeichnet. Dort im Heiligen Garten hatte der Mensch einen neuen Umweltfaktor hinzugefügt, namentlich die Scherben der kunstvoll verzierten, sakralen Krüge, die einem seit grauer Vorzeit andauernden, objektbesessenen Opferkult geschuldet waren. Diese im Sonnenlicht glitzernden Scherben dekorierten alsbald die Nester der Vögel, um ihrem Triebe nach um die potentesten Partner zu buhlen, und den Käfern bot die gebrannte Erde anders als faulende Borke einen beständigen Schutz. Eine Mutation, welche die glänzende Farbe der Larven auf die ausgewachsenen Tiere übertrug, stellte sich unter diesen Umständen als äußerst gewinnbringend heraus: Nicht nur die Zuneigung der Partner stieg an, sondern auch die der ehemaligen Fressfeinde, welche die vermeintlichen Scherben zu zahlreichen Eiern mit nahrhaftem Inneren trugen. Eine kleine Abänderung in der Chemie des Bohrrüssels brachte die Möglichkeit, den schützenden Kalkmantel in harter Kleinstarbeit zu durchdringen. Als eines Sommermorgens das erste Mal kein Vogel schlüpfte, sondern das ausgefressene Ei unter dem Druck der schillernden Larven aufriss, war der Mensch nicht mehr nur allein dazu fähig, einen Scherbenhaufen zu hinterlassen.

Hätte und dies bleibt bloße Spekulation Charles Derwing diesen Text hier vorgelegt, der tatsächlich zu Beginn des dritten Äons geschrieben ward und über eine mögliche Evolution der Käfer spekulierte, wäre seine Ansprache möglicherweise, das muss betont werdenerfolgreich verlaufen. Das simple Bild, das manche Autoren von der Biologe haben, hätte ihn zwar amüsiert, doch auch nachdenklich durch den Bart streichen und Vorkehrungen treffen lassen. So aber gab es keine Gegenwehr. Sein Hirn zersetzte sich mehr und mehr, getrieben durch die Larven von Xyleborus aurata, die gelernt hatten, einen vorgefundenen Embryo unter Umständen nicht bei ungeborenem Leibe zu zerfleischen, sondern sein Hirn zu besetzen und den Drang nach Scherben zu verstärken. Wie genau sie allerdings die Physiologie des Menschen beeinflussten, vermochte Charles, anders als die verschwiegenen Priester, nicht mehr zu ergründen. Die Parasiten zerstörten seinen Körper gründlich und ohne Gnade.

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